Selbstfürsorge und die Fürsorge für andere
Es ist gut, fürsorglich und aufmerksam gegenüber anderen zu sein, aber man sollte sich dabei nicht selbst vernachlässigen. Eine gute Selbstfürsorge hat nichts mit Narzissmus oder Egoismus zu tun, sondern zeugt von einer gesunden inneren Balance.
Ich habe nicht selten beruflich mit Menschen zu tun, die mehr auf die Bedürfnisse anderer zu achten scheinen als auf ihre eigenen. Sie verhalten sich gegenüber ihren Lieben fürsorglich, während sie oft ihre eigenen, ähnlichen oder sogar identischen Bedürfnisse vernachlässigen.
Ich erinnere mich an eine junge Mutter, die wochenlang eine mit Klebeband reparierte Brille trug. Sie meinte, das funktioniere ganz gut und wäre keine grosse Sache; zum Kauf einer neuen Brille hätte sie keine Zeit. Auf die Frage, was sie im gleichen Fall einem ihrer beiden Kinder sagen würde, antwortete sie ohne Zögern: „Ich würde mit ihnen eine neue Brille besorgen!“ Das folgende Gespräch war interessant und aufschlussreich, da wir uns gemeinsam fragten, warum sie sich mit der behelfsmässig reparierten Brille zufrieden gab und zudem glaubte, keine Zeit für einen Brillenkauf zu haben.
Was würde man einer Freundin raten?
Eine Freundin von mir klagte viele Wochen über Schmerzen im linken Knie. Auf einiges Drängen hin konsultierte sie schliesslich einen Facharzt. Die Konsultation zog sich über Monate hin, weil der Arzt Termine absagte, Anrufe nicht beantwortete und sogar einen vereinbarten Termin vergass. Meine Freundin akzeptierte das alles ohne Murren. Als ich sie fragte, was sie mir raten würden, wenn die Rollen vertauscht wären, sagte sie: „Wechsel den Arzt! Lass dir endlich helfen. Das geht doch nicht an, dass du wochenlang Knieschmerzen hast!“
Diese Beispiele sind keine Einzelfälle. Viele sind stolz darauf, sich um Freunde und ihre Familie zu kümmern, sich energisch dafür einzusetzen, dass anderen geholfen wird, aber allzu oft haben sie sich selbst nicht auf dem Radar. Sie kommen gar nicht auf die Idee, auch mal nach sich zu schauen.
Es gibt Hinweise darauf, dass sich manche in ihrem Selbstwertgefühl verletzt fühlen, wenn es um ihre eigenen Probleme und Bedürfnisse geht. Sie glauben, das könnte eine Form von Schwäche sein – etwas, das sie sich nicht erlauben dürfen. Sich auf sich zu besinnen, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und gut zu sich zu sein riecht bei manchen nach Egoismus. Da wird dann eine Krankheit lieber entschuldigt als in Ruhe auskuriert („Es tut mir so leid … ich werde sonst nie krank!“) und sogar wie ein persönliches Manko kritisiert („Ich hasse es, als kranke Person angesehen zu werden. Das bin einfach nicht ich!“). Manche sind sogar ein bisschen schuldbewusst: „Es tut mir leid, erkältet zu sein. Ich mache es wieder gut.“ Dieselben Menschen „erlauben“ anderen ohne Urteil oder Kritik, krank oder in irgendeiner Weise beeinträchtigt zu sein, aber nicht sich selbst. Infolgedessen lehnen sie beispielsweise den Gang zu einem Arzt ab, selbst wenn dies angemessen und notwendig ist.
Für andere schauen und sich selbst vernachlässigen?
Hüten Sie sich vor der Doppelmoral, eine fürsorgliche Ehepartnerin, Mutter und Freundin zu sein, während Sie es schaffen, sich selbst zu vernachlässigen. Sie verdienen das gleiche Mass an Fürsorge und Pflege. Seien Sie sich gewiss, dass das nichts mit Egoismus, Narzissmus oder überzogener Selbstliebe zu tun hat!
Gesunde Selbstliebe bedeutet, dass man sich akzeptiert und annimmt, so wie man ist – mit allen Stärken und Schwächen. Das ist eine Voraussetzung für ein gutes soziales Miteinander. Selbstakzeptanz ermöglicht es mir, auch andere mit all ihren Ecken, Kanten und Marotten anzunehmen. Einem Narzissten fehlt genau diese Reflexion, weshalb klar ist, dass dessen vermeintliche Selbstliebe nichts mit wahrer Liebe zu tun hat. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich die Wirklichkeit: Wenngleich Narzissten sehr selbstbewusst auftreten, ist ihr Selbstbewusstsein gering. Stattdessen leiden sie an einem negativen Selbstbild, das sie ständig mit sich hadern lässt.
Die Mühe wert!
Dabei ist Selbstliebe nichts für Flaneure. Sie gleicht eher einem Marathon. Dieser Lauf mit sich selbst hat es zwar in sich, ist aber die Mühe wert, denn Sie laufen nicht gegen, sondern mit sich. Statt Verantwortung für Dinge zu übernehmen, für die Sie gar nichts können, oder von Selbstwertproblemen ausgebremst zu werden, geben Ihnen eine gute Selbstfürsorge und Selbstliebe Schwung, um Ihre Steine ins Rollen zu bringen. Mit Liebe zu sich selbst können Sie sich und Ihre Bedürfnisse besser spüren, und das tut auch anderen gut, da sie dadurch mit sich im Reinen sind.
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