Hat jeder Mensch das Zeug für mystische Erfahrungen?
Der Wunsch nach spirituellen und mystischen Erfahrungen ist gross. Aber hat jeder Mensch, der sie sich wünscht, auch das Zeug dazu? Der Gründervater der Humanistischen Psychologie Abraham Harold Maslow sagt: „Ja, diese Fähigkeit hat jeder Mensch!”, und bekommt dabei Unterstützung vom Benediktinermönch, Eremiten und spirituellen Lehrer David Steindl-Rast.
Der US-amerikanische Psychologe Abraham Harold Maslow gilt als Gründungsvater der Positiven Psychologie. Statt zu untersuchen, was zu psychischen Störungen führt, beschäftigte er sich mit der Frage, was uns hilft, seelisch gesünder zu werden.
Im Laufe seiner Studien erforschte er jene Phänomene, die er zunächst „mystische Erfahrungen” und später „Gipfelerlebnisse” (Peak Experiences) nannte. Kern seiner Untersuchungen waren Momente tiefer Verbundenheit und unbedingter Zugehörigkeit, in denen jegliche Form von Getrenntsein aufgehoben ist und wir uns eins mit der Welt fühlen. Kurzum, Momente tiefsten Glücks.
„Gipfelerlebnisse” sind nach Maslow spontane Erfahrungen transzendenter Natur, die universell auftreten und somit sowohl theistischen als auch übernatürlichen oder nicht-theistischen Inhalts sein können. Die Erfahrung ist so einzigartig wie der Mensch, der sie erlebt.
Was ist Mystik?
Der Ausdruck Mystik kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet „geheimnisvoll”. Er ist ein Sammelbegriff für Erfahrungen, in welchen Grenzen aufgelöst werden und man einer göttlich-spirituellen oder absoluten Wirklichkeit begegnet. Es gibt keine wirklich klare Definition von Mystik, aber eine tief sitzende Sehnsucht danach. Allein die vielen Bereiche, in denen Mystik Forschungsgegenstand ist, zeigen, wie bedeutsam sie für uns ist: Theologie, Religionswissenschaften, Kultur-, Geschichts- und Literaturwissenschaft, Medizin, Philosophie und Psychologie.
Dankbarkeit ist ein Schlüssel für mystische Erfahrungen
David Steindl-Rast OSB ist ein österreichisch-amerikanischer Benediktinermönch, Eremit, spiritueller Lehrer und weltweit tätiger Vortragsreisender. Wie Maslow ist er davon überzeugt, dass jeder Mensch ein Mystiker ist (Jeder Mensch ist ein Mystiker, https://www.bibliothek-david-steindl-rast.ch/bibliothek/texte/interviews-mit-bruder-david/211-jeder-mensch-ist-ein-mystiker).
Wichtig dafür ist, sich Freiräume im Alltag zu schaffen, in denen wir die Möglichkeit für Gipfelerlebnisse – bei Steindl-Rast sind es Gotterlebnisse – haben. Dabei wird klar, dass er nicht von ekstatischen Emotionsfeuerwerken spricht, sondern von diesen ganz kleinen, scheinbar unauffälligen Momenten, die uns ergreifen und beseelen. Für Steindl-Rast ist klar, dass jeder Mensch die Fähigkeit zu diesen Momenten hat, sie jedoch allzu leicht vergisst oder sich möglicherweise davor fürchtet, denn ergriffen zu sein bedeutet, die Kontrolle abgelegt zu haben.
In der Pflege von Dankbarkeit sieht Steindl-Rast die einfachste Möglichkeit, Gipfelmomente und Verbundenheit mit sich und der Welt zu fühlen. Bewusst wahrzunehmen, was gerade geschieht, und nichts als selbstverständlich anzunehmen, gibt solchen Erlebnissen Raum. Steindl-Rast nennt hierfür als Beispiel den Moment, wenn wir den Wasserhahn aufdrehen. Für uns selbstverständlich und das Normalste auf der Welt, dabei haben Millionen Menschen kein Trinkwasser.
Die deutsche Fachärztin für Psychiatrie und Psychoanalytikerin Luise Reddemann beschrieb auf die Frage, was wir aus der Zeit des Lockdowns und der Restriktionen mitnehmen können, einen Moment, der beseelen kann: „Stetiger Wandel und dass wir geborgen sind, wenn wir uns verbunden fühlen, und uns bewusst machen, dass wir mit jeder Scheibe Brot, die wir zu uns nehmen, verbunden sind: mit der Natur und mit vielen Menschen, die uns unterstützen, bis wir unsere Scheibe Brot haben. Es ist nichts Grosses, es geschieht in jedem Augenblick!“ Eine wunderbare Beschreibung für ein Gipfelerlebnis: die Dankbarkeit, wenn ich achtsam mein Brot esse und mir zudem bewusst werde, wie viele Hände das ermöglicht haben.
Musik, Dichtung, Natur, Kinder – alles Möglichkeiten für mystische Erlebnisse
Musik, Dichtung, Natur oder auch das Zusammensein mit Kindern können uns ebenfalls zu mystischen Erfahrungen verhelfen. Momente, in denen wir verstehen, dass wir nicht nur der Ast an einem grossen Baum sind, der tief wurzelt ist und in luftige Höhe wächst, sondern auch der ganze Baum – wie es der deutsche Benediktinermönch und Zen-Meister Willigis Jäger OSB mit dem Zen-Namen Ko’un Rōshi einstmals so schön zusammenfasste.
Vielleicht kann dieser Impuls des deutschen Mystikers Meister Eckhart (1260–1328) Ihnen eine Brücke zu einem mystischen Erlebnis sein:
Die entscheidende Frage im Leben
Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart,
der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht,
und das notwendigste Werk immer die Liebe.
Die entscheidende Frage im Leben ist also nicht, was ich tue,
sondern wer ich bin.
Es bedeutet nicht, nichts zu tun,
sondern aus dem SEIN,
der inneren göttlichen Quelle heraus aktiv zu werden.
Die Schöpfung ist der geeignete Ort, um Schritt für Schritt in diese
Seinsverbundenheit hineinzuwachsen.
Die Leute brauchen nicht so viel nachzudenken, was sie tun sollen,
sie sollen vielmehr bedenken, was sie seien.
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Danke für den tollen Beitrag und das wunderbare Foto.
Kleine Anmerkung: Maslow hat zwar „Positive Psychologie“ erstmalig verwendet, jedoch sollte man in diesem Zusammenhang Martin Seligman mit erwähnen, der das Thema 1998 neu aufgegriffen hat und die Forschung in diesem Gebiet maßgeblich geprägt hat, oder ?
Lieber Thomas
Danke für Deinen Beitrag.
Ich muss gestehen, dass bei mir Martin Seligmann nicht wirklich auf dem Radar ist für Mystik – worauf beziehst Du Dich da genau? Ich kenne Seligman mehr aus dem Depressionsforschung, Positive Psychologie und der Idee der „erlernten Hilflosigkeit“.
Herzliche Grüsse, Silke
Hi Silke, da gebe ich Dir recht. Martin Seligmann und Mystik passt nicht direkt zusammen.
Ich bin über Deinen Satz „ Der US-amerikanische Psychologe Abraham Harold Maslow gilt als Gründungsvater der Positiven Psychologie.“ etwas gestolpert. „Positive Psychologie“ bringe ich eher mit Seligmann in Verbindung und nicht primär mit Maslow. Wobei die Aussage über Maslow nicht falsch ist.
LG
Thomas
Ja, Martin E. P. Seligman hat sich sehr verdient gemacht bzgl. seinen Beiträgen auf dem Gebiet der Positiven Psychologie. Ebenso seine Forschungsergebnisse zur Depression und seine Idee der „erlernten Hilflosigkeit“.
Herzliche Grüsse, Silke