Warum lieben wir traurige Musik?
Die Liste der wissenschaftlich nachgewiesenen positiven Effekte von Musik ist lang und wird jährlich länger. Musik ist ein gewaltiger Stimulus für das Gehirn und macht nachweislich glücklich. Wieso hören wir dann so gerne melancholische Musik, vor allem wenn wir bereits traurig sind?
Der Sohn eines Bekannten war auf der Suche nach einem todtraurigen Lied – einem Lied, das bei Trauer nicht tröstet, sondern diese verstärkt. Er erhielt innerhalb eines Tages 71 Antworten, begeistertes Interesse, viele Songtipps und sogar ganze Playlisten. Das Ergebnis mag überraschen, bestätigt aber eine Erkenntnis aus der Sozialforschung: In trauriger Stimmung legen wir bevorzugt Musik auf, die zu diesem Gefühl passt.
Was paradox klingt, ist bei näherer Betrachtung ganz logisch. Wir versuchen, uns mit trauriger Musik zu beruhigen – oder genauer gesagt, wir möchten durch den Klangteppich in Resonanz mit unserem Gefühl kommen. Dadurch fühlt man sich gehalten, umfangen und zu Hause in sich.
Mit Musik den Schmerz spüren
Welche Musik wählen Sie, wenn Sie traurig oder unglücklich sind? Bei einer Trennung, Scheidung oder wenn ein geliebter Mensch gestorben ist? Vielleicht wählen Sie dann auch eher traurige oder zumindest ruhige Musik aus? Diese Musik trägt uns tiefer in die Traurigkeit, was vielleicht auf den ersten Blick erschrecken mag. Aber im Zustand der Trauer ist es heilend, den Schmerz zu spüren. Das ist übrigens manchmal gar nicht so leicht. Passiert etwas unerwartet und plötzlich, kann ein Schock dazu führen, dass wir gar nichts spüren. Dann kann Musik ein sehr hilfreiches und heilendes Instrument sein. Melancholische Musik öffnet uns für meditative Reflexion. Sie bietet uns Raum und Zeit.
Heilung durch Fantasie
Unser Bewusstsein ist eine synthetische Illusion, die vom Gehirn geschaffen wird. Durch Kunstformen schaffen wir eine Verbindung zwischen dem bewussten Verstand, der vor allem mit Sprache arbeitet, und unserem Unbewussten, das nonverbal kommuniziert. Musik, Tanz, Poesie, bildende Kunst – das sind Wege, um eine Verbindung zwischen unserem Bewusstsein und unserem Unbewussten zu schaffen. Wir ermöglichen uns, mit dem Verstand das aufzunehmen, was der Körper bereits verstanden hat: Trauer! Jeder kennt bei Beginn der Trauer Gedanken wie „Das ist nicht wahr”, „Ich kann es nicht glauben” und spürt parallel, wie der Körper leidet. Das Unfassbare kommt nicht im Kopf an, obwohl man um das Unausweichliche weiss. Musik kann beim Verstehen und Akzeptieren helfen.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Kunstformen hat Musik keinen visuellen Bezug. Wir nehmen Musik wahr und schaffen uns unsere eigenen inneren Bilder. Das alles dockt direkt an der Amygdala und dem limbischen System an, weswegen wir durch Musik immer und automatisch Gefühle und Stimmungen erzeugen können. Insbesondere bei der Trauer um einen geliebten verstorbenen Menschen kann dieser Vorgang bei der Heilung und Integration des Gefühls helfen. Denn ein Gefühl will gefühlt werden. Verdrängen hilft nicht. So schmerzhaft es ist, wir sollten uns dem Schmerz all der Gefühle stellen, die uns bei Tod und Verlust überwältigen. Musik kann dabei wie von Magie begleitet helfen, sich der Traurigkeit eine Zeit lang hinzugeben, um dann beruhigt und gestärkt wieder aufzustehen und weiterzumachen.
Mit trauriger Musik versetzen wir uns bewusst und gewollt in einen traurigen Zustand, den wir auch bewusst und gewollt wieder verlassen können – ganz einfach mit dem Ende des Liedes. Das gibt uns eine gewisse Kontrolle zurück, die wir nach einem Verlust schmerzlich vermissen. Wir haben in der Hand, wann wir uns wie tief in die Traurigkeit begeben, was die oft plötzlich auftauchenden Trauerwellen abschwächen kann. Warum? Wir haben uns bereits in Traurigkeit geübt und müssen keine Angst vor ihr haben.
Erinnerung bewahren und neue Erinnerungen schaffen
Man heilt nie vollständig von einem grossen Verlust. Der Verlust wird Teil von uns, was aber nicht heisst, dass er uns dominieren muss. Ganz im Gegenteil: es ist die bittersüsse Würze, die uns den Geschmack für das Leben gibt. Jenes Leben, das trotz seiner Schattenseiten auch viel Sonniges zu bieten hat. Traurige Musik trifft in der Trauer unseren emotionalen Zustand und lässt diese zu, in all ihren Facetten. Sie hält uns für einen Moment fest, und wir lassen es geschehen. Sie dringt in uns ein, lässt uns fühlen, lässt uns erinnern und kann im Rückblick sogar neue, wohltuende Erinnerungen schaffen.
Das Lieblingslied meines Mannes war „Gracias a la vida” von der chilenischen Singer-Songwriterin Violeta Parra und vorgetragen von der Argentinierin Mercedes Sosa. Ich habe dieses sehr traurige Lied schon immer geliebt. Heute begleitet es mich mehr denn je und ermöglicht mir, gute neue Erinnerungen zu schaffen. Musik hilft uns, unseren Schmerz zu betrauern. Deshalb hören wir sie. Es tut gut, sich der heilenden und stärkenden Kraft der Musik hinzugeben.
https://www.youtube.com/watch?v=cIrGQD84F1g
„Gracias a la vida”
Gracias a la vida, que me ha dado tanto,
me dio dos luceros, que cuando los abro,
perfecto distingo lo negro del blanco,
y en el alto cielo, su fondo estrellado,
y en las multitudes, el hombre que yo amo.
Gracias a la vida, que me ha dado tanto,
me ha dado el oído, que, en todo su ancho,
graba noche y día, grillos y canarios,
martillos, turbinas, ladridos, chubascos,
y la voz tan tierna de mi bien amado.
Gracias a la vida, que me ha dado tanto,
me ha dado el sonido y el abecedario,
con él, las palabras que pienso y declaro:
madre, amigo, hermano y luz alumbrando
la ruta del alma del que estoy amando.
Gracias a la vida, que me ha dado tanto,
me ha dado la marcha de mis pies cansados;
con ellos anduve ciudades y charcos,
playas y desiertos, montañas y llanos,
y la casa tuya, tu calle y tu patio.
Gracias a la vida, que me ha dado tanto,
me dio el corazón que agita su marco,
cuando miro el fruto del cerebro humano,
cuando miro al bueno tan lejos del malo,
cuando miro al fondo de tus ojos claros.
Gracias a la vida, que me ha dado tanto,
me ha dado la risa y me ha dado el llanto.
Así yo distingo, dicha de quebranto,
los dos materiales que forman mi canto,
y el canto de ustedes, que es el mismo canto,
y el canto de todos, que es mi propio canto.
Gracias a la vida, que me ha dado tanto.
„Dank an das Leben”
Dank an das Leben, das mir so viel gegeben hat,
es gab mir zwei Sterne, die, wenn ich sie öffne,
perfekt Schwarz von Weiss unterscheiden lassen,
und im hohen Himmel, im sternenklaren Grund
und in der Menge den Mann zeigen, den ich liebe.
Dank an das Leben, das mir so viel gegeben hat,
es hat mir das Gehör gegeben, das in seiner ganzen
Breite Tag und Nacht aufnimmt: Grillen und Kanarienvögel,
Hämmer, Turbinen, Gebell, Regenschauer
und die zarte Stimme meines Geliebten.
Dank an das Leben, das mir so viel gegeben hat,
es hat mir den Klang und das Alphabet gegeben,
mit ihm die Worte, die ich denke und damit erkläre:
Mutter, Freund, Bruder und Licht erleuchten den Weg
der Seele desjenigen, den ich liebe!
Dank an das Leben, das mir so viel gegeben hat,
es hat mir den Marsch mit meinen müden Füssen
ermöglicht; mit ihnen ging ich durch Städte und
Pfützen, Strände und Wüsten, Berge und Ebenen
und in dein Haus, deine Strasse und deinen Lichthof.
Dank an das Leben, das mir so viel gegeben hat,
es gab mir das Herz, das durchgeschüttelt wird.
Wenn ich die Frucht des menschlichen Gehirns betrachte,
wenn ich das Gute so weit vom Schlechten betrachte,
wenn ich in die Tiefen deiner klaren Augen schaue.
Dank an das Leben, das mir so viel gegeben hat,
Es hat mich zum Lachen und zum Weinen gebracht.
So unterscheide ich Glückseligkeit von der Not,
die zwei Materialien, aus denen mein Lied besteht,
und Euer Lied, das das gleiche Lied ist,
und das Lied von allen, das mein eigenes Lied ist.
Dank an das Leben, das mir so viel gegeben hat.
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