Geniessen Sie Ihre Ferien, oder posten Sie nur?
Experten schätzen, dass im Jahr 2017 etwa 1,3 Billionen Fotos gemacht wurden. Täglich werden auf Facebook bis zu 350 Millionen Fotos gepostet. Ist man bei dieser Vielzahl an Schnappschüssen überhaupt noch wirklich dabei? Oder bedeutet nicht zu fotografieren, dass man etwas verpasst? ForscherInnen haben festgestellt, dass man beim Fotografieren genauer hinschaut, wodurch man den Moment mehr geniesst, und geniessen macht glücklich. Jedoch gilt dabei zu beachten, was man fotografiert und für wen!
Fotografische Selbstinszenierungen gab es schon immer, jedoch haben Digitalisierung und Social Media ihnen eine neue Facette gegeben: Was ich poste, richtet sich nicht mehr nach meinem Geschmack, sondern nach dem meines Publikums. Es geht weniger darum, was mir gefällt, sondern was meine Follower wohl beeindrucken mag. Somit bestimmen User und Algorithmen, was (für mich) erinnerungswürdig ist und wird.
Sichtbares Zeichen, wie sich unsere Wahrnehmung von Sehenswürdigkeiten und Naturerlebnissen ändert, ist die zunehmende Anzahl an Selfies und vor allem von Selfie-Spots. Ist es nicht paradox, dass wir dem Ort, für den wir eine Reise unternehmen, den Rücken zukehren, um uns selbst ins Zentrum zu rücken? Mit den Selfie-Spots wird unser Blick fremdgesteuert. Statt etwas mit Haut und Haar zu erleben, lassen wir andere bestimmen, was wir wahrnehmen sollen. Wir lassen uns nicht mehr vom Leben überraschen, sondern unsere Neugier verkümmern. Dabei ist Offenheit gegenüber Menschen, Erfahrungen und Ansichten mit ein Garant für ein zufriedenes Leben!
Bloss nichts verpassen und Hauptsache dort gewesen!
Statt zu verweilen und zu geniessen, lassen wir uns bei der fotografischen Urlaubsdokumentation hetzen. Wenn man in eine Suchmaschine „Mona Lisa” und „Selfie” eingibt, wird man von einer Lawine an Fotos überrollt. Gemäss einer Studie des Louvre jedoch beträgt die durchschnittliche Verweildauer vor der Mona Lisa nur weniger als eine Minute! Statt das zu erleben, was ausschließlich der Louvre bieten kann, nämlich das berühmte Gemälde im Original zu betrachten, strömen offenbar viele Besucher nur zu einem einzigen, banalen Zweck dorthin – um zu dokumentieren: ich war da!
Wer bedenkt, wie schnell er selbst in Social Media über die Bilder anderer wegwischt, der ahnt, welchen Stress sich manche Menschen auferlegen, die permanent an oberster Stelle erscheinen wollen. Dabei wird von den Algorithmen gnadenlos ausgesiebt, was nicht auf entsprechende Aufmerksamkeit stösst. Das kann am Selbstwert kratzen. Das Netz mag zwar nie vergessen, aber was nützt das schon, wenn die Fotos bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung im digitalen Nirwana verschwinden?
Der Blick macht den Unterschied
Die Marketingforscherin Kristin Diehl und ihre KollegInnen Gal Zauberman sowie Alixandra Barasch von der Universität von Südkalifornien in Los Angeles haben in neun Studien untersucht, welchen Einfluss das ständige Knipsen auf unseren Alltag hat. Sie stellten fest, dass durch die Linse betrachtet Schönes noch schöner werden kann, wenn man es dabei intensiv betrachtet. Indem man bewusst nach Motiven sucht, die man festhalten möchte, schaut man genauer hin und kostet damit den Moment tiefer aus. Die WissenschaftlerInnen stellten zudem fest, dass man für dieses Auskosten keine Kamera braucht! Es reicht, sich geistig damit zu beschäftigen, wie man etwas fotografieren würde, und schon nimmt man voller Genuss einen unvergesslichen Moment wahr.
Reisen, erleben, vertiefen, geniessen
Bereits in den 1980er Jahren begann der US-amerikanische Sozialpsychologe Fred Bryant von der Loyola-Universität in Chicago zu untersuchen, wie heilsam es ist, kleine, wohltuende Mikromomente im Alltag wahrzunehmen, auszukosten und damit auf unserem persönlichen Wohlfühlkonto zu sichern. Bryant hat nachgewiesen, dass die Kunst, Gutes aufmerksam wahrzunehmen und bewusst zu geniessen, unsere Gesundheit wie auch unsere Lebensfreude und Zufriedenheit fördert.
Mehr noch, Genussfähigkeit stärkt unser Selbstwertgefühl und unser Wohlbefinden, verbessert unsere Konzentration, Achtsamkeit und Gelassenheit, macht uns umgänglicher und geselliger und stärkt unsere Motivation und Kreativität. Es ergibt sich von selbst, dass man wenig im Moment ist, wenn man wahllos rumknipst, noch den Augenblick mit allen Sinnen geniesst, wenn der einzige Gedanke der Selbstinszenierung gilt und alles andere – Menschen, Sehenswürdigkeiten, Naturschauspiele – zur Kulisse und damit zur Nebensache werden.
Sightseeing jenseits der Sehenswürdigkeiten
Eine spannende, teilweise abenteuerliche und immer erkenntnisreiche Form, das wirkliche Leben der Einheimischen kennenzulernen und seinen Horizont zu erweitern, hat der Franzose Joël Henry entwickelt. In seinen Vorschlägen zum „experimentellen Reisen“ verwischen die Grenzen zwischen Reisen und Spielen. Der Weg mag definiert sein, aber das Ziel ist offen. Eine neue Freiheit der Wahrnehmung entsteht. Indem man seine Aufmerksamkeit auf kleinere, verstecktere Dinge lenkt, findet man vielleicht auch eine neue Sichtweise auf die Dinge.
Experimentelle Tourismus-Ideen:
- Besuchen Sie Ihren Heimatort so, als wären Sie selbst ein Tourist. Was würde ein Norweger sehen wollen? Oder ein Chilene? Was wäre, wenn man nur eine Stunde Zeit hätte?
- Einen Ort nach dem Rechts-links-System erkunden: erst links abbiegen, dann rechts, dann wieder links usw.
- Erkunden Sie eine Stadt, indem Sie die erste Strasse mit „A“ und die letzte Strasse mit „Z“ auf dem Stadtplan verbinden.
- Verbringen Sie eine gewisse Zeit Ihres Urlaubs in einem Flughafen, aber ohne wegzufliegen. Beobachten Sie die Reisenden oder die Flughafen-MitarbeiterInnen, bestaunen Sie die ständig wechselnden Abflugzeiten, besuchen Sie die Geschäfte wie auch die unterschiedlichen Waschräume.
- Besuchen Sie Orte, die eine administrative Funktion für die Einheimischen haben und kaum/keinen touristischen Wert haben, also z.B. Sozialamt, Rathaus, Polizeistation.
- Fahren Sie getrennt von Ihrer Partnerin/Ihrem Partner in eine Stadt, und versuchen Sie, sich dort ohne Hilfsmittel zu finden.
- Besuchen Sie einen Ort bei Nacht. Schauen Sie sich genau das in der Dunkelheit an, was Sie tagsüber besichtigen würden.
- Sprechen Sie Einheimische an, und folgen Sie deren Empfehlungen akribisch. Mit dieser Idee lässt sich auch der eigene Heimatort neu entdecken.
- Besorgen Sie sich einen klassischen Stadtplan aus Papier, und entscheiden Sie sich für ein Feld, beispielsweise D4 oder F7. Erkunden Sie dieses komplett – jede Strasse, jede Attraktion, gegebenenfalls jedes gastronomische Angebot.
- Erkunden Sie die Endhaltestellen einer Stadt. Nehmen Sie einen Bus, eine U- oder S-Bahn, deren Linie in einem Vorort endet, und erkunden Sie diesen.
- Lassen Sie sich blind durch eine Stadt oder Landschaft führen.
- Erkunden Sie beim Besuch von Sehenswürdigkeiten die gegenüberliegende Strassenseite.
- Nutzen Sie einen total veralteten Reiseführer, und suchen Sie die darin beschriebenen Restaurants auf (oder was immer sich dort mittlerweile befindet).
Es ist übrigens erlaubt, jederzeit zu tricksen und die selbst gesetzten Regeln kurzfristig zu ändern – experimentelles Reisen ist Tapetenwechsel und Spiel in einem.
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