Warum richtig Abschied nehmen so wichtig ist
Abschied nehmen heisst etwas zurücklassen: Menschen, Dinge, Gefühle, Positionen, Ämter, Ziele, Wünsche. Gibt es ein Talent zum Abschiednehmen? Eine kürzlich erschienene Studie weist darauf hin, wie wichtig es ist, etwas abzuschliessen und „Lebewohl!″ zu sagen.
Der US-amerikanische Evolutionspsychologe Eric Klinger sagte einmal, es komme für uns Menschen einem psychischen Erdbeben gleich, wenn wir uns von wichtigen Zielen, Menschen oder Orten trennen müssen. Die meisten von uns wissen intuitiv, wie wichtig es ist, sich zu verabschieden, auch wenn wir oftmals versuchen, die Biege zu machen, sobald sich ein Abschied am Horizont ankündigt. Trennungen schmerzen. Aus neurowissenschaftlichen Studien wissen wir, dass der Trennungsschmerz genauso intensiv sein kann wie körperliche Schmerzen.
Leider sind die wenigsten von uns gut gerüstet für Abschiede. Ganz im Gegenteil, unsere Biologie sieht vor, dass wir lieber an Bekanntem festhalten. Unser Gehirn sucht und festigt gern Bindungen – ob zu Menschen, Zielen oder Dingen.
Abschliessen, um weitergehen zu können
In einer 2020 erschienenen Studie unterstreichen die deutschen Wissenschaftlerinnen Prof. Dr. Gabriele Oettingen, Dr. Bettina Schwörer und Nora Krott, wie wichtig es für uns ist, bei einem Abschied einen gut abgerundeten Abschluss zu finden („well-rounded ending”). In sieben Studien haben sie untersucht, ob und wie Menschen davon profitieren, wenn sie das Gefühl haben, dass sie etwas endgültig abschliessen konnten und dass alles getan wurde, was getan werden konnte. In allen Studien beobachteten die Psychologinnen: Wenn beides gegeben ist, können wir leichter in die nächste Lebensphase übergehen, bedauern weniger und können bei allem Schmerz auch die möglichen positiven Folgen erkennen.
Wenn wir uns verabschieden, können wir Gefühle in Worte fassen. Das Diffuse wird fassbar. Das wiederum ermöglicht uns zu bestimmen, wie wir uns an jemanden oder etwas erinnern. Abschiede geben uns das Gefühl, etwas wirklich abgeschlossen zu haben, so dass wir in die nächste Phase unseres Lebens eintreten können.
Gibt es ein Talent zum Abschiednehmen?
Es gibt Menschen, denen es leichter fällt, etwas abzuschliessen. Scheinbar bestimmen unsere Gene mit, ob wir ein Talent zum Abschiednehmen haben. In der Psychologie geht man davon aus, dass jeder von uns über ein zu 70 Prozent genetisch bestimmtes Erregungsniveau verfügt. Die meisten von uns mögen es ruhig, aber etwa jeder Fünfte hält sein Erregungsniveau gerne hoch. Das sind diejenigen, die immer wieder neue Reize suchen und von Neugierde und Abenteuerlust geprägt sind. Etwas Neues anzufangen, fällt ihnen wenig(er) schwer. Das jeder Entschluss für etwas auch eine Entscheidung gegen etwas ist, haben sie verinnerlicht.
Ohne Lebewohl tut’s doppelt weh
Die grosse Mehrheit von uns tut sich jedoch schwer mit Neuanfängen und fühlt sich in der Routine wohler. Das gilt sowohl für plötzliche, ungewollte Veränderungen wie einen Unfall oder eine Kündigung als auch für gewollte und selbst angestossene Wechsel wie einen Umzug oder eine Weltreise. All das braucht Mut, Kraft und Energie. Wenn wir uns dann nicht richtig verabschieden können, wird es schwieriger, in die nächste Lebensphase zu wechseln. Wir können uns womöglich nie vollständig vom Alten lösen. Schlimmstenfalls befinden wir uns in einem fortwährenden Trauerzustand und fragen uns immer wieder, was hätte sein können. Bedauern, Wut, Verwirrung und Schuldgefühle können zu ständigen Begleitern werden.
Abschiedskultur etablieren
Das Ende von etwas ist wichtig, denn es prägt unsere Erinnerung. Wenn ein guter Freund geht, ohne sich zu verabschieden, kann es passieren, dass wir die ganze Freundschaft in Frage stellen. War das vielleicht doch nur ein guter Bekannter? Die vielen gemeinsam verbrachten, schönen Stunden verblassen im Hintergrund, und das offene Ende hinterlässt dauerhaft einen schalen Geschmack im Mund. In einem solchen Fall sollten wir für uns einen guten, runden Abschluss finden. Vielleicht mit einem Abschiedsbrief, den wir für eine gewisse Zeit aufheben und dann an einem ausgewählten Tag verbrennen.
Unsere Enden verdienen den gleichen Respekt wie unsere Anfänge und daher auch würdevolle Abschiedsrituale. Jeder weiss das, der einmal jemanden zu Grabe getragen hat. Die Totenfeier und der Leichenschmaus sind wichtige, wohltuende Rituale im Trauerprozess. Es ist wichtig, seinen Frieden zu finden, wenn etwas endet. Schmerzhafter sind die Abschiede, die nie verarbeitet wurden.
Mehr erfahren
Schwörer, B., Krott, N. R. & Oettingen, G. (2020). Saying goodbye and saying it well: Consequences of a (not) well-rounded ending. Motivation Science, 6(1), 21–33. https://doi.org/10.1037/mot0000126
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Liebe Silke,
vielen Dank für diese aktuellen Ausführungen und Referenzen zu diesem – eigentlich omnipräsenten -wichtigen Themenkomplex unseres Lebens. Ich hatte die Gelegenheit, vor vielen Jahren bei Dr. George Kohlrieser (Organisationspsychologe und klinischer Psychologe, Transaktionsanalytiker) dessen „Bindungs- und Trennungs-Zyklus“ zu lernen und selbst zu erfahren; er basiert sich u.a. auf John Bowlbys „Attachement and Loss“-Studien sowie Elisabeth Kübler-Ross‘ „On Death and Dying“ -Ausführungen und integriert sie in ein sehr spannendes Werk für Führungskräfte: „Gefangen am runden Tisch“ – Klarheit schaffen, Entschlossen verhandeln, Leistung freisetzten.
Wie immer bin ich begeistert, wie Sie solche komplexen Themen auf eine „knackige“ Blog-Größe zusammenfassen!
Liebe Christel
Vielen Dank für Ihr Feedback und die weiteren guten Inputs zu Dr. George Kohlreiser, Johan Bowlby und Elisabeth Kübler-Ross.
Ich freue mich, dass Ihnen der Artikel gefällt und bin überwältigt, wieviele alleine in den beiden letzten Tagen diesen Blog gelesen haben.
Mir war nicht klar, wieviele Menschen das Thema Abschied nehmen anspricht. Im nächsten Blog, der am 28. März erscheint, gebe ich konkrete Tipps, wie Abschied nehmen gelingen kann. Ich selbst habe festgestellt, wie gut es tut eine Sache wirklich abzuschliessen, statt diffus offen zu lassen.
Herzliche Grüsse,
Silke
Liebe Silke,
vielen Dank für deinen Artikel und die angeführte Studie. Ich habe selbst, persönlich und in der Begleitung von Menschen, die Erfahrung gemacht, wie wichtig Abschiede sind. Ignorieren wir ein Ende oder einen Übergang, dann bleibt häufig etwas hängen. Das kann sehr belasten. Auch bei einem Ende, das wir eigentlich sehr begrüßen (z.B. ungeliebter Job), ist es aus meiner Sicht sehr wichtig, ein „rundes Ende“ zu finden bzw. zu gestalten.
Ich bin schon gespannt auf deinen nächsten Artikel mit konkreten Hinweisen, wie Abschiede gelingen.
Herzliche Grüße,
Regina
Liebe Regina
Vielen Dank für Deinen Beitrag. Gut, dass Du auch ansprichst, wie wichtig es ist, etwas „rund abzuschliessen“, was man selber angestossen hat, wie bspw. eine Kündigung, einen Umzug, ja selbst eine Trennung. Es ist ja ein bisschen wie beim physischen Aufräumen: Sachen zusammenräumen, überlegen, was man vielleicht doch noch braucht, was man verschenken kann, was wirklich weg kann und dann entsprechend handeln. Letztendlich ist Abschied nehmen auch, wie die Seele aufräumen.
Herzliche Grüsse,
Silke