Wie funktioniert das Harvard-Konzept für erfolgreiche Verhandlungen?
Das Harvard-Konzept wird seit mehr als 30 Jahren erfolgreich angewendet, um Differenzen auszuräumen und zu einer gemeinsamen, bestmöglichen Lösung zu finden. Es hilft, auch bei schwierigen Verhandlungen noch ein positives Verhandlungsergebnis zu erzielen.
Das Harvard-Konzept ist eine wissenschaftlich erarbeitete und auf ihre Wirksamkeit überprüfte Methode des sachbezogenen Verhandelns. Grosse Bekanntheit erlangte es durch seine Anwendung bei den Camp-David-Verhandlungen vom 17. September 1978, die schliesslich zum isrealisch-ägyptischen Friedensvertrag führten.
Ende der 1970er Jahre beschäftigte sich der Harvard-Rechtswissenschaftler Roger Fisher mit der Frage nach der richtigen, wissenschaftlich fundierten Verhandlungstechnik. Dafür analysierte er verschiedenste Verhandlungen aus unterschiedlichen Bereichen ‒ immer mit der Frage, was beim Verhandeln und Überzeugen besser sei: hart oder weich vorzugehen? Was ist erfolgversprechend und was zum Scheitern verurteilt? Seine Ergebnisse und das daraus erarbeitete Harvard-Konzept publizierte er 1981 zusammen mit William L. Urs in dem Buch Getting to Yes (deutscher Titel: Das Harvard Konzept). Später kam noch Bruce Patton hinzu.
Friedensverhandlungen finden nicht nur in Nahost statt
Die meisten Menschen glauben, dass Verhandlungen nur im geschäftlichen, politischen oder beruflichen Kontext stattfinden. Dabei ist jeder Versuch, einen anderen von etwas zu überzeugen, eine Verhandlung. In Ihrer Abteilung soll jemand einen unangenehmen Job übernehmen, und Sie möchten sicher sein, dass das nicht Sie sind. Sie wollen Ihren neuen Partner zur Geburtstagsfeier von Grosstante Herta mitnehmen und ahnen bereits, dass er sich mit allen Kräften dagegen sträuben wird. Im Zimmer Ihrer pubertierenden Tochter herrscht ein kreatives Tohuwabohu, dessen Anblick Sie nervt, und Sie gehen davon aus, dass gutes Zureden sie nicht zum Aufräumen animieren wird. Das sind alltägliche Beispiele, in denen es darum geht, den eigenen Willen, eigene Pläne und Interessen erfolgreich durchzusetzen.
Verhandeln hat viel mit Überzeugen und Argumentieren zu tun, mit Lösungsfindung auf der einen Seite und Durchsetzung sowie dem Ausloten von Machtverhältnissen auf der anderen Seite. Das Ziel ist, frei von Streit und Ärger seine Interessen zu vertreten und am Ende eine Lösung zu finden, mit der alle zufrieden sind. In diesem Blog möchte ich Ihnen das Harvard-Konzept und seine Grundlagen vorstellen. Im nächsten Blog nenne ich Ihnen zwei Anwendungsbeispiele – eines aus dem Privatleben und eines aus dem Berufsalltag.
Keine faulen Kompromisse
Das Ziel des Harvard-Konzepts ist eine konstruktive und friedliche Einigung in Konfliktsituationen, möglichst mit einem Win-win-Ergebnis. Damit geht die Methode einen anderen Weg, als einen klassischen Kompromiss zu erreichen. Was ist der Unterschied? Sind Kompromiss und Einigung nicht das Gleiche? Obwohl wir im Alltag beide Begriffe fast synonym verwenden, ist ihr gefühlter Inhalt unterschiedlich.
Kompromisse sind oftmals beliebt, weil sie schnell und einfach zu erreichen sind. Die beteiligten Personen akzeptieren eine Lösung, zu der sie durch gegenseitige Zugeständnisse gelangt sind. Jeder geht also einen Schritt auf den anderen zu, gibt etwas ab, und dann trifft man sich in der Mitte. Nur gerade dieses Abgeben hinterlässt manchmal einen schalen Geschmack im Mund. Da beide Zugeständnisse machen mussten, ist keiner wirklich zufrieden. Ein Interessenkonflikt wird dadurch nicht beigelegt. Er geht weiter.
Hinzu kommt, dass manche vermeintlichen Kompromisse auf vorgeplanten Betrugsmanövern beruhen, die einen ahnen lassen, dass man übers Ohr gehauen wurde. Jeder, der einmal gefeilscht hat, kennt sicherlich dieses Gefühl. Obgleich es also schneller und einfacher geht, Kompromisse zu schliessen, lohnt es sich, den etwas längeren Weg der Einigung zu gehen. Denn hier steht der grösstmögliche beiderseitige Nutzen im Vordergrund – sowohl auf der Sachebene als auch auf der Beziehungsebene.
Grundpfeiler des Harvard-Konzepts
Das Harvard-Konzept ist eine strukturierte Vorgehensweise. Sie unterstützt darin, die eigenen Interessen und Ziele standhaft zu vertreten und gleichzeitig die Beziehung zum Verhandlungspartner positiv zu beeinflussen. Der vierstufige Prozess ist hilfreich, ob in der Arbeit, unter Freunden oder daheim am Küchentisch. Das Harvard-Verhandlungskonzept basiert auf einem Grundprinzip und vier Leitlinien:
- Grundprinzip: Hart in der Sache – weich gegenüber den Menschen!
- Erste Leitlinie: Probleme und Menschen getrennt behandeln.
- Zweite Leitlinie: Auf Interessen (Ziele) statt Positionen konzentrieren.
- Dritte Leitlinie: Mehrere Entscheidungsmöglichkeiten (Optionen) entwickeln.
- Vierte Leitlinie: Auf der Anwendung objektiver Kriterien bestehen.
Erste Leitlinie: Probleme und Menschen trennen
Menschen und Probleme zu trennen bedeutet nicht, reserviert und rein analytisch vorzugehen wie Mr. Spock. Es bedeutet auch nicht, dass man persönliche Aspekte in die Diskussion einbringt. Es bedeutet, sich dessen bewusst zu sein, dass man sich sowohl um Probleme als auch um Menschen kümmern muss. Das setzt Mitgefühl voraus, welches dabei unterstützt, den anderen zu verstehen und die richtigen Worte zu finden. Denn das, was der andere denkt, das ist Ihr Problem. Von daher ist es wichtig, sich in seine Lage zu versetzen und zu verstehen, was ihn bewegt. Achten Sie dabei auf Ihre Bedenken und Befürchtungen – sie sollten nicht auf das Bild abfärben, das Sie vom anderen haben. Die Gefahr ist zu gross, dass Sie sich so nichts anderes erarbeiten als irgendwelche Unterstellungen.
Gefühle sind die Steuerleute unseres Verhaltens. Daher braucht es Verständnis für die eigenen Emotionen wie auch für die des anderen, gleichgültig für wie verkopft man sich hält. Gehen Sie davon aus, dass beim Hochkochen von Emotionen immer wichtige Grundbedürfnisse verletzt wurden, wie Wertschätzung, Anerkennung oder Autonomie. Bei einem Konflikt hat daher die Beziehungsarbeit immer Vorrang. Versuchen Sie, darüber hinwegzugehen, indem Sie sich lieber mit dem Sachkonflikt beschäftigen – der meist einfacher gestrickt ist –, kommt das Beziehungsproblem wie ein Bumerang zurück.
Zweite Leitlinie: Auf Interessen (Ziele) statt Positionen konzentrieren
Verhandelt werden Interessen und keine Positionen, denn Letztere sind nicht verhandelbar. Meine Position entspricht meiner Haltung und ist im Grunde nichts anders als meine persönliche Lösung, die ich logischerweise favorisiere. Es liegt in der Natur des Menschen, dass man hier weder Diskussionen noch Zugeständnisse wünscht. Interessen sind hingegen vielfältiger. Sie sind offen für andere Meinungen, Veränderungen und auch Ergebnisse. Interessen ermöglichen Optionen.
In dieser Phase der Verhandlung werden alle Interessen genannt und deren jeweilige Pros und Kontras diskutiert. Insbesondere hier ist es wichtig, das Grundprinzip des Harvard-Konzepts zu beachten und die eigenen Interessen standhaft zu vertreten. Parken Sie Interessenkonflikte für später, und konzentrieren Sie sich auf gemeinsame Interessen. Formulieren Sie diese zu gemeinsamen Zielen.
Dritte Leitlinie: Mehrere Entscheidungsmöglichkeiten (Optionen) entwickeln
Seien Sie offen für jegliche Ideen. Verwenden Sie Kreativtechniken, wie z.B. die Walt-Disney-Methode, die Denkhüte von De Bono oder die Zukunftswerkstatt von Robert Jungk. Je mehr Lösungen Sie erarbeiten, desto wahrscheinlicher werden Sie eine finden, die mit allen Interessen im Einklang ist.
Wenn man hingegen von Anfang nur nach der einen wahren Lösung sucht oder auf einer solchen beharrt, kommt man in der Verhandlung nicht weiter. Gleiches gilt, wenn man Vorschläge gleich im Keim erstickt oder nur auf „Entweder-oder“-Lösungen gepolt ist. Besser ist es, einfallsreich so viele Ideen wie möglich zu sammeln, um aus einem grossen Repertoire wählen zu können. Achten Sie dabei darauf, dass diese Optionen zum beiderseitigen Vorteil sind. Gehen Sie schrittweise vor, und trennen Sie klar den Prozess des Optionen-Findens vom Optionen-Beurteilen.
TIPP: Die Beste Alternative
Behalten Sie beim Beurteilen der Optionen Ihre „Beste Alternative“ im Blick. Das ist eine Option, die Sie vor der Verhandlung erarbeitet haben, indem Sie sich fragen, was für Sie das oberste und das unterste Limit einer Einigung ist und mit welcher Einigung Sie schlimmstenfalls noch leben können. Das Wissen um Ihre „Beste Alternative“ nimmt Ihnen den Druck, wenn eine Übereinkunft getroffen werden muss. Das ist anders, wenn Sie unvorbereitet in eine solche Situation hineinschlittern. Die „Beste Alternative“ ermöglicht es Ihnen zudem, leichter aus Verhandlungen auszusteigen, was Ihre Einflussmöglichkeiten stärkt. Sie ist auch Ihre Richtschnur, was Sie tun werden, wenn Sie zu keiner Einigung kommen. Versteifen Sie sich jedoch nicht auf diese „Beste Alternative“ – sie könnte sonst verhindern, dass Sie sich nach noch besseren Lösungen umschauen.
Vierte Leitlinie: Auf der Anwendung objektiver Kriterien bestehen
Im vierten Schritt werden von allen Beteiligten Kriterien festgelegt, um zum einen das Verhandlungsergebnis zu messen und zum anderen bewerten zu können, ob es von beiden Seiten als objektiv, fair und neutral angesehen wird.
Probieren Sie es aus!
Das Harvard-Konzept mag auf den ersten Blick arbeitsintensiv wirken oder allzu sachlich für den privaten Gebrauch. Probieren Sie es dennoch einmal aus. Alleine die Anwendung des Grundprinzips kann schon viel Stress aus Diskussionen nehmen. Die Beziehungsebene nicht mit der Sachebene zu vermischen und dabei von Interessen zu sprechen, statt Positionen zu verteidigen, führt automatisch und oft mühelos zum kreativen Entwickeln verschiedener Lösungsmöglichkeiten. Wenden Sie die einzelnen Leitlinien auch einmal separat an – jede situative Übung wird Sie darin unterstützen, Schritt für Schritt wirkungsvoll zu argumentieren, zielstrebig zu verhandeln und dabei auch noch eine vertrauensvolle Beziehung zu Ihrem Verhandlungspartner zu schaffen.