Führen ohne Dominanz – warum das die Zukunft ist
Führung schafft Klarheit. Trotz einer gewissen Sehnsucht nach dem Geführtwerden streben die meisten Menschen nach freier Entfaltung und mehr Eigenverantwortung im Job. Studien zeigen, dass die Zeit der strengen Patrons vorbei ist. Wer in der heutigen Welt Menschen für sich gewinnen will, muss frei von Härte und Dominanz, jedoch klar, lebendig und mit Empathie führen.
Täglich können wir uns darüber informieren, wie künftig die Digitalisierung in all unseren Lebensbereichen Einzug halten wird und welche Veränderungen mit den weltweiten Entwicklungen in Richtung Industrie 4.0 möglich sind. Trotz vieler Szenarien ist jedoch unklar, welche Rolle wir Menschen dabei spielen. Sind wir Opfer oder Gestalter der tiefgreifenden Veränderungen? Was bedeutet das für jeden Einzelnen? Wie wird sich das auf unsere Arbeitsrealität auswirken?
Der Welt wird komplexer
Der Begriff, der versucht, diese Komplexität zusammenzufassen, lautet VUCA. VUCA steht für:
- V = Volatilität/Schwankung, Unbeständigkeit (Volatility): Sowohl die Natur als auch die Dynamik des Wandels entfalten enorme Kräfte. Sie sind die Katalysatoren für kommende Veränderungen.
- U = Ungewissheit (Uncertainty): Der Mangel an Berechenbarkeit und das fehlende Bewusstsein und Verständnis für Themen, Ereignisse und Zusammenhänge sorgen für Ungewissheit.
- C = Komplexität (Complexity): Der Anteil an Multioptionen und die Multikomplexität steigen. Die Dynamik unserer Systeme wächst weiter an. Die Vernetzungen werden unübersichtlicher.
- A = Mehrdeutigkeit (Ambiguity): Der Anteil an Ursache-Wirkung-Zusammenhängen sinkt. Eindeutigkeit nimmt ab. Missdeutungen und Fehlinterpretationen nehmen zu.
Erwartungen und Anforderungen werden komplexer
Mit der Zunahme an Komplexität haben sich auch die Anforderungen an Führungskräfte in den letzten Jahren dramatisch verändert. Schneller und häufiger prasseln Veränderungen auf sie nieder, während sie sich im Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Aufgaben, Zielsetzungen und Erfolgserwartungen befinden. Wenngleich der autoritäre Führungsstil schon lange verpönt ist und kooperative oder situative Führungsstile gefordert werden, sieht die Realität oft anders aus. Aus Unsicherheit und Kontrollverlust wird mit Regelwerken und Mikromanagement eher die Hierarchie zementiert. Dabei ist ein Umdenken gefordert, um in der digitalisierten Welt Schritt halten zu können – oder man wird auf Dauer scheitern.
Zu engmaschiges Führen hemmt
Die Vorteile eines autoritären Führungsstils mögen sein, dass schneller Entscheidungen getroffen werden und Verantwortliche leichter auszumachen sind, aber insgesamt zieht er ein Arbeitsklima nach sich, das sich für Unternehmen nachteilig auswirkt. Fehlende Kreativität, Passivität oder Frustration bis hin zu Resignation können Folgen sein, die sich am Ende im Unternehmensergebnis spiegeln.
Zwar erzeugt eine hierarchiegetriebene Führung eine gewisse Stabilität, aber das ist nur für stabile Umwelten wichtig. Obwohl derzeit noch engmaschig und primär hierarchisch geführte Konzerne wie Amazon oder Facebook äusserst erfolgreich sind, ist die Zeit des Führens ohne Macht längst angebrochen. Einen Vorgeschmack auf diese Wende erleben wir, wenn charismatische Firmengründer, die ihre Ideen zuvor leidenschaftlich, aber autoritär durchgesetzt haben, dem Unternehmen nicht mehr zur Verfügung stehen oder wenn ihre Aura sich verflüchtigt, sobald der Erfolg ausbleibt. Hier zeigt sich, dass diese im alten Stil geführten Unternehmen zu langsam und vor allem zu unflexibel sind, um neue, zeitgemässe Wege zu gehen.
Sinnerleben als Motor für Produktivität
Insbesondere bei Firmen in der IT-Branche ist das Umdenken bereits Wirklichkeit geworden. Zunehmend organisieren diese sich agil und projektbezogen. Im Buch „Reinventing Organizations” des früheren McKinsey-Beraters Frédéric Laloux erfährt man von zwölf namhaften Unternehmen, die ganz auf Hierarchie verzichten. Auffällig ist: Alle Mitarbeiter fühlen sich einem sinnerfüllten Leitmotiv verbunden, das sie stärker zu guter Leistung motiviert, als es ein dominanter Führungsstil vermöchte.
Führen ohne Macht ist die Königsdisziplin
Für Frédéric Laloux liegt die Zukunft in integral-evolutionären Organisationen, in denen die Ausrichtung der Arbeit an den Bedürfnissen der Menschen der wichtigste Impulsgeber ist. Die Grundidee hierfür hat er der Natur entnommen – diesem lebendigen Organismus mit all seiner Komplexität in einem komplexen Umfeld. Da eine integral-evolutionär geführte Organisation wie ihr Pendant in der Natur weder Machthierarchien noch Organigramme kennt, sich aber eigenständig an die Umwelt anpasst, setzt sie Selbstmanagement, Sinnerleben und Ganzheitlichkeit bei jedem Einzelnen voraus.
Verwirklichungshierarchien statt Machthierarchien
Zukünftig geht es also darum, Führung vermehrt als Rolle zu verstehen und nicht als hierarchische Position. Je nach Fähigkeiten und Motivation übernehmen Mitarbeitende nach Bedarf Rollen. Intrinsische Motivation durch eine gute Beziehung zu Kollegen rückt ins Blickfeld. Statt sich ständig mit sich selbst zu beschäftigen (Stichwort: Reorganisation) stehen die Kunden und konkrete Marktbedürfnisse im Fokus. Die Entscheidungsfindung findet nicht mehr hierarchisch statt, sondern in einem Beratungsprozess und einer anschliessenden Verantwortungsübernahme. Kosten können eingespart werden, indem Mitarbeiter auf allen Ebenen vor Ort und kundennah entscheiden können. Fehler sind erlaubt und werden als Lern- und Verbesserungschancen gesehen.
Servant Leader – der zeitgemässe Führungsstil
Wenn jeder zeitweise und projektbezogen eine Führungsrolle übernehmen darf, erhält Führung immer mehr Dienstleistungscharakter. Mag sein, dass sich nicht jeder in einer solchen Organisation wohl fühlt. Aktuell führen jedoch Unberechenbarkeit und Komplexität eher zu einer grösseren Regeldichte, zu Mikromanagement und einem ausgebauten Controlling, was bei vielen Zynismus, Frustration und Resignation auslöst. Studien von Arbeitspsychologen zufolge sind die Leistungsergebnisse jedes Einzelnen umso besser, je grösser der Entscheidungsfreiraum und das Sinnerleben sind. Aktiv Anteil an der Gesellschaft zu nehmen und die Zukunft mitzugestalten sind stärkere Treiber als materielle Vergütungen. Mit der Digitalisierung der Arbeit und den Entwicklungen der Industrie 4.0 folgt eine Demokratisierung von Führung.
LITERATURTIPPS:
- David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015.
- Dieter Frey & Lisa Schmalzried: Philosophie in der Führung. Gute Führung lernen von Kant, Aristoteles, Popper & Co. Springer, Berlin 2013.
- Felix Frei: Hierarchie. Das Ende eines Erfolgsrezepts. Pabst Science Publishers, Lengerich 2016.
- Frédéric Laloux: Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen Verlag, München 2015. Alternativ bietet der Autor auf seiner Homepage das E-Book als pay-what-feels-right
wunderbarer Artikel, danke Dir. Ich stimme Dir in allen Punkten zu. Und der sichere Weg dies alles in wenigen Schritten zu erreichen? Herzlich grüsst das SokratesMapConcept.
Lieber Thomas
Vielen Dank. Ich freue mich, dass Dir der Artikel gefällt.
Bei der Recherche zum Blog bin ich auf vieles sehr interessantes und wegweisendes gestossen – mit der zunehmenden Digitalisierung verändert sich unsere Arbeits- und Lebenswirklichkeit. Gut, wenn man halbwegs gewappnet ist.
Herzliche Grüsse, Silke
Grossartiger Artikel, da kann ich Thomas nur zustimmen. Ich denke, es ist höchste Zeit für einen grundlegenden Wechsel in der Art, wie „gemeinhin“ Führung verstanden wird. Mikromanagement ist ja letztlich nichts anderes als Ausdruck der Ängste des/der Vorgesetzten. Wie hat es jemand doch so schön formuliert: „Vertrauen zahlt sich am Ende immer aus…“. Und Führen ohne Dominanz geht ja auch nur mit Vertrauen in die Fähigkeiten und den guten Willen der Mitarbeiter. Herzliche Grüsse, Marlène
Liebe Marlene
Vielen lieben Dank. Ja, es braucht ein Umdenken und Konzepte, die sich an die jeweiligen Situationen flexibel anpassen.
Herzliche Grüsse
Silke
Hallo Frau Weinig, ein sehr interessanter Beitrag!
Da erkenne ich doch die IT-Branche der 80er- und 90er-Jahre wieder.
Es wurden lediglich Budgets und Ziele abgestimmt, dann ließ man die Mitarbeiter machen.
Und die machten das i.d.R. sehr gut, weil sie super motiviert waren und auch als Angestellte angemessen(!) bezahlt wurden.
Zu Marlene: „Mikromanagement ist ja letztlich nichts anderes als Ausdruck der Ängste des/der Vorgesetzten“. Da stimme ich voll zu, aber diese Ängste werden von oben nach unten durchgereicht und der unterste „Sandwich“-Manager ist sehr darauf bedacht, seine Mitarbeiter eng und dominant zu führen bzw. zu kontrollieren nach dem Prinzip „Cover your Ass“.
Herzliche Grüße
D. Kiel, IT-Consultant, Freelancer
Lieber Herr Kiel
Danke für Ihren Beitrag. Ich freue mich, dass der Text auf Ihr Interesse stösst. Ja, es gab vor einiger Zeit einige Bereiche, wo diese Form der Führung gelebt wurde – und das mit Erfolg. Glücklicherweise gibt es auch heute agile Firmen, die diese Form der Mitarbeiterführung nutzen.
Auch kenne ich das Leid der „Sandwich-Manager“ – da braucht es viel Psychohygiene, um nicht daran zu verzweifeln, dass man zwar wie ein Entrepreneur agieren soll, aber nur so lange, wie es in das gewünschte Gesamtbild passt.
Herzliche Grüsse
Silke Weinig