Kann man sich jung denken?
Der Volksmund sagt: „Man ist so alt, wie man sich fühlt“ – ist da etwas dran? Untersuchungen zeigen, dass Alter auch eine gedankliche Konstruktion ist und stark von unseren stereotypen Gedanken anhängig ist. Scheinbar lassen uns unsere Erwartungen über das Altern körperlich mehr altern, als es physisch sein müsste. UND umgekehrt! Kann man sich also jung denken?
Bereits in der Schulzeit wurde uns im Biologieunterricht vermittelt, dass Altern kein kontinuierlicher Prozess ist, sondern in Schüben erfolgt. Mittlerweile wissen wir, dass unsere Gene nur zu 25 Prozent unsere Lebensdauer beeinflussen. Viel entscheidender sind soziale, medizinische und kulturelle Faktoren, die auf unsere Lebenserwartung einwirken. Welchen Einfluss kognitive Faktoren haben, wird seit knapp vierzig Jahren intensiv untersucht.
Embodiment: Wechselwirkung Körper‒Geist
Seit Jahrhunderten streiten sich Philosophen und Psychologen um die Frage, ob und wie weit Gedanken auf unseren Körper wirken. Etliche Wissenschaftler haben mit erstaunlichen Embodiment-Experimenten nachgewiesen, dass unsere gedankliche Welt unseren Körper offenbar weit mehr beeinflusst, als wir glauben.
„Embodiment“ heisst übersetzt so viel wie Verkörperung und ist ein Zweig der Kognitionswissenschaft. Der portugiesische Neurowissenschaftler Antonio Damasio, der an der University of Southern California lehrt, bringt es in knappen Worten auf den Punkt. Er sagt: „The mind is embodied, not just embrained.“ Unser Geist ist also nicht nur ein Produkt unseres Gehirns. Er ist auch Teil unseres Körpers. Körper und Geist beeinflussen sich gegenseitig.
Bleibt man körperlich jung, wenn man „jung“ denkt?
Bereits 1979 führte die Harvard-Professorin für Psychologie Ellen Langer ein sehr aufwendiges und spannendes Experiment durch. Dieses gibt uns interessante Erkenntnisse darüber, wie Altern funktioniert. Die zentrale Frage ihres Experiments „Counterclockwise“ (Gegen den Uhrzeigersinn) lautet: „Wenn wir in der Lage wären, die psychische Uhr zurückzustellen, könnten wir das dann auch physisch?“ Das Hauptfrage ist: inwieweit lassen uns unsere Gedanken von körperlicher Gesundheit altern? Einfach, weil wir es so erwarten. Für Ellen Langer ist klar, dass allein durch die Überzeugung, wir seien jung und leistungsfähig, sich der Alterungsprozess anhalten, ja sogar umkehren lässt!
Zeitreise in das Jahr 1959
Sechzehn Herren zwischen Ende siebzig und Anfang achtzig durften an dem Experiment von Ellen Langer teilnehmen. Sie unternahmen eine einwöchige Zeitreise. Für das Experiment wurde ein abgeschiedenes Kloster im US-Bundesstaat New Hampshire umgebaut. Und zwar so, dass man sich in das Jahr 1959 zurückversetzt fühlte. Die gesamte Einrichtung stammte aus den fünfziger Jahren. Moderne Annehmlichkeiten gab es keine. Im Schwarz-Weiss-Fernseher wurden Filme und Serien aus den späten Fünfzigern gezeigt. Im Radio liefen die damals brandaktuellen Hits. In den Bücherregalen lagen die angesagten „Neuerscheinungen“.
Die Teilnehmer wurden aufgeteilt in eine Experimentalgruppe und eine Kontrollgruppe. Letztere hatte die Aufgabe, sich mit Hilfe der Einrichtung an das Jahr 1959 zu erinnern. Sie sollten in Nostalgie zu schwelgen, aber im Hinterkopf zu behalten, dass es 1979 war. Die Experimentalgruppe sollte stattdessen die letzten beiden Jahrzehnte komplett ausblenden. Ihre Aufgabe war sich so verhalten, wie sie es vor zwanzig Jahren getan hätten. Also als wäre die Pensionierung in weiter, diffuser Ferne. Als stünden sie mitten im Leben mit entsprechenden Plänen und Ideen für die Zukunft.
Ergebnis jenseits der esoterischen Wohlfühlrhetorik
Die Resultate der Studien waren beachtlich, denn beide Gruppen wurden „jünger“, wobei die Experimentalgruppe viel grössere Veränderungen aufzeigte. Die Probanden fühlten sich nicht nur jünger, sie waren es auch – sichtbar auch für Aussenstehende. Nachweislich verbesserten sich ihre Sehkraft wie auch ihre körperliche Beweglichkeit und geistige Schärfe. Und das nach gerade einmal sieben Tagen!
Psychovariante des ersehnten Jungbrunnens?
Ellen Langer konnte mit diesem Experiment nachweisen, dass unser Denken die Kraft hat, unser Gewicht zu reduzieren, unser Sehvermögen zu verbessern, uns jünger aussehen zu lassen und unsere Lebenserwartung zu erhöhen. Weitere Studien von ihr und anderen Wissenschaftlern zu diesem Themenbereich folgten. Allein Ellen Langer ist Autorin von mehr als zweihundert wissenschaftlichen Artikeln und sechs akademischen Büchern. Mit der Zeit hat die Autorin die Bedeutung der Achtsamkeit für ein gesundes und beschwerdefreies Altern erkannt. Darüber forscht und schreibt sie vermehrt. Für sie ist klar, dass schon subtile Veränderungen unserer Denkweise und unserer Erwartungen ausreichen, um lang gepflegte Gewohnheiten abzulegen, die unsere Gesundheit und Vitalität beeinträchtigen.
Die Zeit im Geiste zurückzudrehen ist mehr als nur ein Nostalgietrip
Fazit ist, dass negative Stereotype über das Alter eine negative Wirkung auf unseren Körper haben. Wenn wir Einschränkungen erwarten, werden diese mit höherer Sicherheit eintreffen. Öffnen wir uns hingegen dem, was möglich ist, statt darüber zu sinnieren und zu klagen, was nicht mehr möglich erscheint, kann sich unsere Gesundheit verbessern. Eine optimistische Haltung gegenüber dem Alter kann die biologische Uhr nicht nur anhalten, sondern sogar (leicht) zurückdrehen. Man kann sich tatsächlich jung denken!
Lesetipp:
Langer, Ellen (2011): Die Uhr zurückdrehen? Gesund alt werden durch die heilsame Wirkung der Aufmerksamkeit, Jungfermann Verlag, Paderborn
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Vielen Dank für den interessanten Blogartikel, Silke. Ja – hilfreiche oder einschränkende Glaubenssätze über das, was in höheren Jahren möglich ist, prägen unser Verhalten. Wie wir uns verhalten (als resignierte Coach-Potatos oder lebenslang Neugierige und Aktive) bestimmt die Erfahrungen, die wir machen. Die verstärken dann die Glaubenssätze wieder. Das ergibt beim Älterwerden eine selbst verstärkende Spirale nach oben bzw. nach unten – je nachdem.
Den erwähnten Versuch zum „Zurückdrehen der Zeit“ von Ellen Langer finde auch ich faszinierend. Das Setting ist allerdings wenig alltagstauglich. Für praktikabler halte ich, wenn auch Menschen jenseits der 65 oder 85 bewusst Sinn im Leben suchen und finden und die Gesellschaft offen für ihre Beiträge ist.
Liebe Christine, vielen Dank für Deinen Beitrag. Ich freue mich, dass Dir der Text gefällt. Ja, Glaubenssätze können unterstützen oder auch limitieren. Wichtig ist, dass man sich seiner Glaubenssätze (halbwegs) bewusst ist. Herzliche Grüsse, Silke
Mit grossem Interesse habe ich diesen Blogartikel gelesen. Gerade ist ein Buch von mir erschienen „Spurwechsel – die neue Lust am Älterwerden“, in dem ich mich auch mit den im Blog beschriebenen Themen befasse: wie können wir den Alters-Stereotypen entgehen, wie negative Glaubenssätze in positive verwandeln, wie evtl. die Spur wechseln hin zu einem erfüllten Leben?
Als Hypnotherapeutin erlebe ich täglich, wie stark Gedanken auf den Körper wirken.
Liebe Frau Schmidt, vielen Dank für Ihren Beitrag. Ich freue mich, dass Ihnen mein Blog gefällt. Ihr Buch klingt spannend. Das schaue ich mir gerne näher an. Herzliche Grüsse, Silke Weinig
Meiner Meinung nach funktioniert das tatsächlich. Wenn man grundsätzlich negativ eingestellt ist, so zeigt sich dies bereits in den Gesichtszügen und wirkt sich auch auf den Körper und den Geist aus. Man fühlt sich eher antriebslos. Sowohl körperlich wie auch geistig. Ist man jedoch grundsätzlich positiv eingestellt so wird man häufig jünger eingeschätzt und das wiederum gibt ebenfalls Auftrieb. Genauso wie sich körperlich UND geistig fit zu halten. Ich glaube sogar, dass es möglich ist, eine positive Grundhaltung zu trainieren. Dies wiederum gibt einen ziemlichen Auftrieb.
Ja, das stimmt. Man sieht mit der Zeit die persönliche Haltung im Gesicht. Unsere Mimik gibt wiederum in einer Rückkopplungsschleife Informationen an unser Gehirn – nämlich, wie wir uns fühlen. Ständige hängende Mundwinkel können dazu führen, dass ich mich schlecht fühle. Mich sogar hängen lasse. Man nennt das Facial Feedback und ist gut erforscht.