Tagebücher und ihre heilende Wirkung
Tagebuch zu schreiben kann die Aktivität des Immunsystems fördern, wohltuend wirken und depressive Symptome lindern. Intuitiv kennen Menschen die Heilkraft der Worte seit jeher. Das „tägliche Seelenputzen in Schriftform“ ist eine hilfreiche Strategie, um schwierige Lebensphasen besser zu bewältigen. Zudem hat es einen weiteren Vorzug: Diaristen schaffen sich eine Reliquie des eigenen Lebens. Damit sind Tagebücher mehr als „nur“ der Hort von Erinnerungen.
Schon Oscar Wilde riet: „Jeder sollte ein Tagebuch führen“, denn kaum etwas sei spannender zu lesen. Goethe und Kafka gingen nicht ganz so weit, aber auch sie schrieben sich täglich ihre Gefühle und Gedanken von der Seele.
Es gibt unzählig viele Tagebücher – bekannte, unbekannte, vergessene. Wie viele dieser Bücher wurden in Stunden der Verzweiflung geschrieben? Weltberühmt sind Das Tagebuch der Anne Frank oder Franz Kafkas Brief an den Vater. Tagebücher müssen jedoch weder hochgeistig à la Goethe oder Kafka noch von der ersten bis zur letzten Seite mit Schmerz und Leid gefüllt sein. Oftmals bringen sie uns zum Lächeln und lassen uns im Nachhinein uns selbst und die Welt besser verstehen, wie zum Beispiel Hape Kerkelings Reisetagebuch Ich bin dann mal weg.
Die Betrachtung des Alltäglichen lädt zur Reflexion ein
Die Psychoanalytikerin Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke bescheinigt Jugendlichen, die Tagebuch führen, höhere Kreativitätswerte und bessere Rollenübernahmefähigkeiten. Sie seien besonders einfallsreich und reif in ihrer Selbstpräsentation.
Unabhängig vom Lebensalter setzt Coach und Psychologin Elisabeth Mardorf das Tagebuchschreiben in ihrer therapeutischen Arbeit ein. Für sie ist das tägliche Schreiben eine ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst und führt zu einem hohen Gewinn an Selbsterkenntnis. Zum einen zeigt es uns die eigenen Schattenseiten und Schwächen, und zum anderen unterstützt es uns dabei, diese schwarzen Flecken ins eigene Selbstbild zu integrieren. Tagebuchschreiben ist damit eine mögliche Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung.
Nutzen von Tagebüchern
Für Rolf Haubl, den geschäftsführenden Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, gehört das Tagebuchschreiben zu den psychischen Strategien, um kritische Lebensereignisse zu bewältigen. Inge Seiffge-Krenke nennt fünf Hauptnutzen, die das Tagebuchschreiben erfülle: Erinnerung, emotionale Entlastung, Selbstintegration, Selbstkritik sowie die Funktion des Tagebuchs als Vertrauter. Weil das Schreiben die innere Dynamik verlangsamt, erhalten wir Entlastung, was gerade bei schwierigen Lebensereignissen hilft.
Worte, insbesondere niedergeschriebene Worte, können Angst lindern. Allein den aufwühlenden Emotionen einen Namen zu geben senkt oftmals schon die Intensität der Empfindung.
James W. Pennebaker, Professor für Psychologie an der University of Texas in Austin, fand in einem Experiment heraus, dass Tagebuchschreiben das Immunsystem stärken kann. In seiner Untersuchung wurden junge, gesunde Studierende gebeten, täglich 15 Minuten lang ihre tiefsten Gefühle und Gedanken niederzuschreiben. Manche Probanden nahm das Schreiben sehr mit; einige verliessen tränenüberströmt den Raum. Umso erstaunlicher war, dass sie am Folgetag wiederkamen und weiterschrieben.
Noch bemerkenswerter waren die Beobachtungen in den folgenden Wochen. Den Studierenden, die sich ihre Leiden von der Seele geschrieben hatten, schien es seelisch und körperlich deutlich besser zu gehen. Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die Belanglosigkeiten niedergeschrieben hatte, gingen sie in den folgenden sechs Monaten seltener wegen Grippe oder Erkältung zum Arzt. Zahlreiche Studien, auch von anderen Wissenschaftlern und an größeren Versuchsgruppen, haben diese Beobachtung seither bestätigt. Das Schreiben stärkt das Immunsystem, wirkt wohltuend bei Erkrankungen und lindert depressive Symptome.
Wie funktioniert expressives Schreiben?
Aufbauend auf seinen Studien hat Pennebaker das expressive Schreiben als Therapieform entwickelt. An drei bis fünf aufeinanderfolgenden Tagen schreibt man für je 15 bis 20 Minuten über ein Thema, das einen emotional belastet. Besonders wirkungsvoll wird das Schreiben, wenn man das Geschehene als eine zusammenhängende Geschichte erzählt. Auch Wechsel der Perspektive unterstützen den Erkenntnisgewinn.
Computeranalysen der Texte zeigen, dass man mehr davon profitiert, wenn man öfter einmal „wir“ schreibt oder von sich selbst in der dritten Person Singular. Indem man Erzähler wird, ändert sich die Blickrichtung, was auch die Sichtweisen anderer Menschen einbezieht. Unterstützt wird dieser erzählende Schreibstil, indem man eine hohe Anzahl von Begriffen nutzt, um Einsichten zu formulieren oder kausale Zusammenhänge zu verstehen.
Wichtig ist auch der richtige Zeitpunkt. Über sehr belastende Ereignisse sollte man erst mit zeitlichem Abstand schreiben. Pennebaker empfiehlt, nach einem solchen Erlebnis mindestens ein bis zwei Monate zu warten. Wer nicht schreiben mag, kann auch Tonbandaufzeichnungen nutzen. Ob gesprochen oder geschrieben, erzwingen sollte man nichts. Wenn die Gefühle zu stark werden, ist es besser aufzuhören.
10 weitere Ideen für Ihre mögliche Biographie
- Nutzen Sie für Ihre Tagebücher Kreativitätstechniken wie Mind Mapping oder Clustering, um Gedanken niederzuschreiben.
- Legen Sie Listen an, und füllen Sie diese systematisch, zum Beispiel: „10 Dinge, die mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern“, „10 Lieblingsorte“ und so weiter.
- Insbesondere Kalender oder Agendas laden ein, die drei wichtigsten Ereignisse des Tages in Stichwortform festzuhalten.
- Schreiben Sie in verschiedenen Farben – entweder nach Lust und Laune oder je nach Stimmung, Ort, Situation.
- Wieso nicht auf losen Blättern, Zetteln und Post-its Gedanken und Gefühle festhalten? Vielleicht mit einem Datum versehen und in einer schönen Kiste aufbewahrt?
- Malen oder zeichnen Sie Ihre Gedanken und Ideen. Nutzen Sie Symbole und Bildwelten.
- Sammeln Sie Erinnerungen, und kleben Sie sie auf eine Collage oder in Ihr Tagebuch, zum Beispiel Eintrittskarten, Fotos, Gedichte, Textpassagen und Ähnliches.
- Probieren Sie das sogenannte „automatische Schreiben” aus, das heißt, schreiben Sie ohne Punkt, Komma, Absatz oder sonstige Unterbrechungen.
- Nutzen Sie verschiedene Tagebücher, zum Beispiel eines für Reisen, eines für Ihr Kind, eines zusammen mit Ihrem Partner.
- Schreiben Sie sich oder einer imaginären Person Briefe – vielleicht sogar im Wechsel. Denken Sie an den Erkenntnis schaffenden Perspektivwechsel.
Foto: Luis Llerena
Liebe Silke, ja, ich glaube auch, dass Tagebuchschreiben positive Auswirkungen auf die Verarbeitung von belastenden Situationen hat. Aber nur kurzfristig. Mir fehlt der Aspekt der Langzeitbetrachtung. Ich habe vor Kurzem jemanden kennengelernt, die ihre Tagebücher nach 32 Jahren mal wieder gelesen hat. Ergebnis: starke Despressionen, weil alles wieder „hoch“ kam. Sie ist heute wieder der Meinung, dass sie die belasten Ereignisse hätte anders lösen können. Der Wunsch „die Zeit zurückdrehen zu wollen“ ist nun eine Belastung, die eine starke Depression hervorruft.
Welchen Rat würdest Du so einer Person geben ?
Lieber Thomas, Danke für Deinen Beitrag und Deinen Hinweis, dass Tagebücher kein Allheilmittel sind. Sollte das Schreiben oder das Lesen, derart aufwühlend sein, braucht es professionelle Hilfe. Da können die Tagebücher möglicherweise helfen, um das Erlebte oder das Erinnerte zu relativieren. Falls das aber eher zu Ängsten oder Depressionen führt, kann auch ich nur raten, die Tagebücher zu Seite zu legen. Ich selbst schreibe Tagebuch seit ich 14 bin und finde es immer sehr spannend zu lesen, was ich erlebt habe und wie ich es erlebt habe. Allein zu sehen, wie meine Schriftsprache sich verändert hat, finde ich sehr spannend. Oft spielt uns unsere Erinnerung einen Streich, da diese sich auch aus aktuell Erlebten ergibt – da hat mir das Nachlesen im Tagebuch sehr geholfen, um die Situation wieder – mit Abstand – vor Augen zu führen. Was mit Tagebüchern sicher nicht erreicht werden sollte, ist ein Leben in der Vergangenheit. Leben findet jetzt statt. Ein Rückblick sollte zu mehr Verständnis führen, aber nicht, dass man darin verhaftet. Ein letzter Gedanke: Vielleicht könnte das Expressive Schreiben helfen, mehr Abstand zu gewinnen?
Ich führe zwar kein Tagebuch, habe aber mehrere Urlaubstagebücher, die ich immer wieder gern zur Hand nehme. Generell jedoch eine sehr gute Idee. Nur – auch hier muss man differenzieren. Die These, dass das Tagebuchschreiben der Lebensbewältigung dient, ist nicht generalisierbar. Es kann heilende Wirkung haben aber auch krank machen. Das Niederschreiben z. B. traumatischer Erlebnisse wirkt auf manche Menschen nicht immer erlösend. Bei vielen werden die erlebten Ängste und Schmerzen wieder hervorgerufen.
Andererseits – seine Gefühle und Gedanken von der Seele zu schreiben, ist ein gutes Mittel zur Selbsthilfe und Persönlichkeitsentwicklung. Belastende oder traumatische Erlebnisse in Worte zu fassen, kann der Seele helfen und den Körper stärken. Es ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst.
Liebe Adelheid, danke für Dein Feedback. Thomas hat den selben, wertvollen Gedanken angebracht. Sicherlich ist es nicht genrealisierbar, dass Tagebuchschreiben immer und zu 100% der Lebensbewältigung dient. Und, es ist etwas grundlegend anderes, ob man das Tagebuch gerade schreibt oder aber man es viele Jahre später wieder durchliest. Beides kann heilsam sein, doch auf völlig unterschiedliche Weise. Ich habe mal in der Literatur nachgeschaut. An der Glasgow Caledonian University wurden die Gesundheitswerte von 91 Diaristen mit denen von 41 Schreibmuffeln verglichen. Das Ergebnis der Forscher war, dass das Niederschreiben traumatischer Erlebnisse nicht erlösend wirkt. Da braucht es professionelle Unterstützung. Ich denke, jeder Diarist sollte auf seine Sprache und Gedanken achten (wie auch bei Sprechen selber). Länger in den Missgeschicken und unglücklichen Situationen zu wühlen als gut ist, ist sicherlich nicht verträglich.